H. J. Ritter: Psychiatrie und Eugenik

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Titel
Psychiatrie und Eugenik. Zur Ausprägung eugenischer Denk- und Handlungsmuster in der schweizerischen Psychiatrie 1850-1950


Autor(en)
Ritter, Hans Jakob
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 35,00
URL
Rezensiert für Clio-online und H-Soz-Kult von:
Uwe Kaminsky, Ruhr-Universität Bochum

Der Zusammenhang der Entwicklung von Psychiatrie und Eugenik in der Schweiz ist der Gegenstand der Dissertation von Hans Jakob Ritter, der dabei die Reformpsychiatrie, die psychiatrische Genetik und die Geschlechterverhältnisse thematisiert. Zunächst umschreibt der Autor den Forschungskontext in der Schweiz, in welchem seit Mitte der 1980er-Jahre die Auseinandersetzung mit eugenischen Denk- und Handlungsmustern stattfand. Der Aufschwung sozialhistorischer Psychiatriegeschichte zog Studien über die Psychiatrie in der Stadt und im Kanton Zürich, die Sterilisationspraxis in der Westschweiz sowie die Eugenik in ihrer geschlechter- und sexualpolitischen Bedeutung am Beispiel von Basel, Bern, Zürich und St. Gallen nach sich. Diese zu rezipieren und am Beispiel der Psychiatrie des Kantons Basel-Stadt weiter zu treiben, hat sich Ritter zur Aufgabe gemacht.

In seinem zweiten Kapitel wendet er sich der Entstehung des schweizerischen „Irrenwesens“ als institutionellem Hintergrund der wissenschaftlichen disziplinären Psychiatrie in der Zeit 1850 bis 1920 zu. Gerade die Etablierung eugenischer Denk- und Handlungsmuster am Beispiel der Entstehung des schweizerischen Zivilgesetzbuches von 1912 – darin wurde zum Beispiel ein Eheverbot für Geisteskranke festgeschrieben – und der Debatte über die Kastration und Sterilisation Geisteskranker bilden in einem dritten Kapitel die Beispiele für die Durchsetzung des eugenischen Blicks, für den sowohl Auguste Forel wie Eugen Bleuler als Kronzeugen benannt werden.

In der im vierten Kapitel beschriebenen Entwicklung von Psychiatrie und Eugenik in der Zwischenkriegszeit werden die Psychiater als Experten für die Verbreitung eugenischer Konzepte verstanden. Nicht nur die Verbreitung der Reformpsychiatrie und der psychischen Hygiene, auch die Übernahme der Konzepte psychiatrischer Genetik aus der Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie in München lassen sich an ihrem prominenten Leiter Ernst Rüdin nachweisen, der für die Jahre 1925 bis 1928 einem Ruf an die Universität Basel folgte. Hier fanden genealogische und populationsgenetische Forschungen von Hans Luxemburger, Adele Juda oder Carl Brugger statt und lassen sich bis in die Kriegsjahre nachweisen. Bis in die 1930er-Jahre besaß die schweizerische Psychiatrie eine Vorreiterrolle für die Verbreitung der Eugenik in Europa. In den Debatten der 1920er-Jahre hatten jedoch die Schweizer Psychiater insgesamt eine „mittlere Linie“ (S. 215) verfochten, die sich gegen spezifische gesetzliche Regelungen gewandt, aber gleichwohl soziale und eugenische Motive für Abtreibung und Sterilisation anerkannt hatte.

Das professionspolitische Argument der Erhaltung möglichst großer Autonomie der Ärzte behielt auch in den 1930er-Jahren die Oberhand, als man sich gegen eine völkisch radikalisierte Eugenik und die Zwangssterilisation im nationalsozialistischen Deutschland abgrenzte. So war die Schweizer Eugenik weniger an einem biologischen Rassismus ausgerichtet und stärker an einer individuellen Betrachtung orientiert, welche eine Sterilisation medizinisch-therapeutisch begründete. Hier konnte es durchaus auch zu Zwangseingriffen kommen, wie Ritter an Fallgeschichten aus der psychiatrischen Klinik Basel in seinem fünften Kapitel nachweist. Die Zahlen der Eheverbote, Sterilisationen und Abtreibungen blieben allerdings gering, auch wenn der Kanton Waadt 1928 mit dem ersten eugenisch motivierten Zwangssterilisationsgesetz Europas aufwarten konnte – ansonsten blieb das Einverständnis der Betroffenen oder ihrer gesetzlichen Vertreter erforderlich. Sterilisationen betrafen vornehmlich Frauen, Ehefähigkeitsbegutachtungen und Eheverbote besonders Männer (S. 352).

Auf dem Gebiet der Eheverbotspraxis fanden zu Beginn der 1940er-Jahre Vorstöße gerade von psychiatrischer Seite statt, die einen verstärkten Zugriff auf Heiratswillige durch Registrierung und Kontrolle anstrebten und hierfür die Bestimmung im Schweizerischen Zivilgesetzbuch über das Eheverbot von Geisteskranken nutzten. Doch diese eugenisch motivierten Initiativen scheiterten auf der Bundesebene, ähnlich wie auch im Fall der Sterilisation. In der Abtreibungsdiskussion kam es allerdings 1942 zu einer Anerkennung der medizinischen Indikation, welche im Sinne eines erweiterten medizinisch-psychiatrischen Gesundheitsbegriffes auch eugenische Begründungen umfasste. Die Vereinbarkeit der Eugenik mit Grundsätzen der schweizerischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ließ diese demokratische Eugenikvariante auch nach 1945 weiter existieren, wie sie sich formalrechtlich im bis 1984 existierenden Zwangssterilisationsgesetz in der Waadt und im bis 1999 gültigen Eheverbot für Geisteskranke spiegelte.1 Was sich im Rahmen einer moderaten professionellen Selbstkritik veränderte, war im Rahmen von allgemeinpsychiatrischen Reformen eine Betonung der Individualrechte der Patienten.

Der Autor versteht seinen Ansatz als „Diskursanalyse der klinisch-institutionellen Praxis der Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt“ (S. 58). Faktisch hat er 15 Fälle von Ehefähigkeitsgutachten und Eheverhinderungen analysiert (S. 241). Von insgesamt 28 Fällen von Sterilisationen von Frauen hat er drei Fälle für eine Interpretation ausgewählt (S. 285). Daneben hat er eine Auswertung der Sitzungsberichte des Vereins schweizerischer Irrenärzte (zuletzt Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie) geleistet, welche sowohl die Entwicklung der Psychiatrie wie deren Verwobenheit mit der Eugenik anzeigen. Die auf den Kanton Basel-Stadt konzentrierte Studie wird durch die gezielte Auswertung einzelner Akten aus dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem Max Planck-Institut für Psychiatrie und weiterer Archive ergänzt. Zusammen mit der umfangreichen Rezeption der Sekundärliteratur hat der Autor hier einen interessanten Längsschnitt über einhundert Jahre Geschichte der schweizerischen Psychiatrie vorgelegt, der ganz am Puls der Forschung verläuft. Auch wenn die Rechtfertigung der Diskurstheorie Foucaults zu Beginn des Buches nicht wirklich den gewählten Zuschnitt begründen kann – im engeren Sinne findet sich eine Anknüpfung nur im gut 60 Seiten umfassenden fünften Kapitel über die Auswertung der Krankenakten –, so tut dies doch der Qualität der Analyse der juristischen und psychiatrischen Debatten keinen Abbruch. Der Autor hat ein gutes Überblickswerk erstellt, das die Wechselwirkungen der Professionalisierung der Psychiatrie und des Aufkommens wie der Ausgestaltung der Eugenik für die Schweiz bestimmt.

Anmerkung:
1 Michael Schwartz wies darauf hin, dass Eugenik sich in den Jahren bis 1945 mit Ausnahme Deutschlands besonders in demokratischen und protestantisch geprägten Staaten durchsetzte. Vgl. Michael Schwartz, Medizinische Tyrannei: Eugenisches Denken und Handeln in international vergleichender Perspektive (1900-1945), in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 7 (2005/2006), S. 37-54.

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Veröffentlicht am
27.08.2009
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